Bildende Künstlerin
Christine Erhard, 1969 in Baden-Württemberg geboren, studierte von 1992 – 98 an der Kunstakademie Düsseldorf bei Prof. Fitz Schwegler. Sie stellt hauptsächlich fotografische Arbeiten her, die in vielen Einzel- und Gruppenausstellungen präsentiert wurden. Zu den zahlreichen Auszeichnungen und Stipendien zählt u.a. der Künstlerinnenpreis des Landes NRW 2002 (Förderpreis), das Stipendium für Künstlerinnen mit Kindern im Jahre 2010, sowie 2020 das Stipendium der Stiftung Kunstfonds. Christine Erhard lebt und arbeitet in Düsseldorf.
FKB: Christine, du bist nicht nur Fotografin, sondern in erster Linie Bildhauerin. Deinen Fotografien gehen zunächst sorgfältig gebaute, architektonisch anmutende Skulpturen voraus. Wie bist du zu dieser Arbeitsweise gekommen? Würdest du den gesamten Entstehungsprozess eines Werks einmal exemplarisch beschreiben?
Christine: Meine Arbeit mit Fotografie begann während meines Studiums an der Kunstakademie Düsseldorf. Zu Beginn arbeitete ich meist plastisch. Damals entstanden Objekte, die sich zwischen Möbel und Skulptur bewegten und die ich zu Interieurs arrangierte. Von diesen Objekten und ihren räumlichen Konstellationen machte ich Fotografien, anfangs noch in rein dokumentarischer Absicht. Doch allmählich interessierten mich diese Fotos auch unter einem anderen Gesichtspunkt: Ich fing damit an, aus diesem Bildmaterial Collagen und Fotomontagen zu entwickeln, die bald als eigenständige Werkgruppe neben den Objekten bestanden.
Der handwerkliche Umgang mit fotografischen Bildern setzte sich auch in spätere Arbeiten hinein fort: Fotografisches Bildmaterial (meist aus einem architektonischen Kontext) übersetzte ich in Collagen aus farbigem Papier. Diese „Reproduktionen“ einer Fotovorlage habe ich abfotografiert, also ein weiteres Mal reproduziert. Am Ende standen Fotos, die ihren ursprünglichen Bildgegenstand nur noch indirekt in sich trugen, überlagert von den Arbeitsspuren eines handwerklichen Prozesses. In späteren Arbeiten habe ich dann begonnen, fotografische Vorlagen wieder zurück ins Räumliche zu übertragen, also tatsächlich räumlich zu bauen.
In dem Bild „Die Fußgängerpassage“ von 2004 lässt sich diese Vorgehensweise ganz gut erkennen: Ausgangspunkt war das Foto einer Fußgängerpassage, das ich in einer Architekturzeitschrift gefunden hatte. Nach dieser Vorlage entstand ein anamorphotisch verzerrtes Pappmodell, das ich auf einen vorher festgelegten Kamerastandpunkt hin konstruiert hatte. Die Oberflächen des Modells sind mit Fotos von unterschiedlichen Materialien bezogen (Beton, Pflastersteine, Ziegel) die ich ebenfalls perspektivisch angepasst habe. Mit diesem Modell bin ich dann in den realen städtischen Raum gegangen und habe es dort so positioniert, dass durch den Blickwinkel der Kamera das Modell und der Stadtraum ineinander überzugehen scheinen. Zugleich ist in dem Bild aber noch der räumliche Bruch zwischen Modell und realem Raum vorhanden. Der L -förmige Streifen links im Bild und das Stativ am unteren Rand machen diesen Bruch sichtbar.
FKB: Kann man deine konstruktivistischen Kompositionen auch als Kritik an der zeitgenössischen Architektur ausgehend vom Brutalismus der 70er Jahre verstehen?
Christine: Nein, ich verstehe meine Bilder keineswegs als Kritik an der Architektur, die sie zeigen, allerdings auch nicht als eine Hommage an diese. Vielmehr interessiert mich dabei, wie architektonischer Raum über fotografische Bilder vermittelt wird. Dabei gibt es eine lange Abbildungsgeschichte von Architektur: Am Bauhaus und in Vorläufern im Werkbund bekam die Architekturfotografie als Darstellungsmedium des „Neuen“ eine enorme Bedeutung (Neues Bauen, Neues Sehen, Neue Sachlichkeit). In dieser Zeit entwickelten auch die Architekten ihre eigenen Strategien des Umgangs mit dem fotografischen Medium. Sie benutzten die Fotografie als Vehikel, um ihr Idealbild einer neuen Architektur zu propagieren. In Publikationen und erstmals auch in Ausstellungen entwickelten sich Darstellungsformen in der Fotografie, die stilbildend für das Bauen gewirkt haben. Mich interessieren diese teilweise ikonisch gewordenen Bilder der Moderne.
Am Brutalismus interessiert mich vor allem seine plastisch körperhafte Ausformung, die in diesen Bauten unverhüllt zutage tritt. Durch das Bauen mit Ortbeton entstanden neue Möglichkeiten der plastischen Gestaltung, die das Material ebenso wie die Konstruktion unkaschiert nach außen stellt. Weil hinter dieser Architektur eine so dezidiert skulpturale Auffassung steht, reizt es mich wohl umso mehr, mich diesem Phänomen auf der Bildebene zu nähern und es zugleich skulptural neu zu interpretieren.
FKB: Wenn ich deine früheren Arbeiten aus der Künstlerinnenpreis-Ausstellung „Wonderlands“ im Museum Küppersmühle 2003 mit den jüngsten Werken vergleiche, so scheinen sie immer komplexer und abstrakter zu werden. Hat sich dein Thema verändert?
Christine: Ich denke eigentlich nicht, dass meine Bilder im Hinblick auf eine bestimmte Thematik entstehen, jedenfalls ist das nichts, was ich mir vornehmen würde. Aber es ist sicher so, dass es gemeinsame Fragestellungen gibt, denen ich mit meinen Bildern schon seit längerem und immer wieder auf verschiedene Weise nachgehe. Das lässt sich exemplarisch an zwei Bildern verdeutlichen, zwischen denen 14 Jahre liegen. Das Bild „Durchgang zu Terrasse“ zeigt in nüchterner und profaner Manier was der Titel bereits ankündigt.
Für das Bild benutzte ich, wie schon zuvor in dem anderen Beispiel beschrieben, ein anamorphotisches Modell aus Pappe, das ich nach einem historischen Foto gebaut habe. Dieses Foto zeigt die Straßenseite des Hauses Tugendhat in Brünn von Mies van der Rohe. Das Modell habe ich auf einem Parkdeck in Wuppertal fotografiert, so dass sich die Höhenlinien der Bergischen Landschaft am Horizont auf dieselbe Weise hinter das Modell legen, wie es in der historischen Aufnahme aus Brünn zu sehen ist. Der räumliche Bruch zwischen Modell und realer Landschaft wird vor allem in der M- förmigen Partie spürbar, die das Modell oben und seitlich umgibt. Diese Reflexion über die Wechselbeziehungen zwischen Bild und Raum findet man auch in jüngeren Arbeiten. In diesem Beispiel von 2017, „B 4B“ sind zwei Bildebenen übereinander geblendet. Das ist zum einen eine Malerei von El Lissitzky, deren Flächenkomposition ich auf dem Fußboden meines Ateliers real – räumlich mit Holzlatten und Stäben nachgebaut habe. In diese Konstruktion integriert ist das Foto einer architektonischen Situation, die ich in Belgrad aufgenommen habe. Beide Ebenen, suprematistische Komposition und brutalistisches Architekturfragment liegen hier wie zwei transparente Folien übereinander und werden in meinem Foto zu einem neuen formalästhetischen Kontext verbunden.
In beiden Beispielen lassen sich also räumliche Brüche zwischen verschiedenen bildlichen Ebenen erkennen. Vielleicht lässt sich sagen, dass in Bildern wie „Durchgang zur Terrasse“ oder „Die Fußgängerpassage“ diese Bruchkanten entlang klar definierter Bildpartien verlaufen, während bei jüngeren Arbeiten wie „B 4 B“ diese Brüche zahlreicher sind und die gesamte Bildkomposition betreffen. Dadurch erscheinen diese Arbeiten dichter und komplexer, als es ältere Arbeiten tun.
FKB: Als ehemalige Preisträgerin und Stipendiatin bist du seit vielen Jahren Mitglied unseres Alumni-Netzwerks. Was bedeutet dir diese Anbindung an das Frauenkulturbüro? Gibt es vergleichbare Künstler*innen-Netzwerke, die du empfehlen kannst?
Christine: Das Frauenkulturbüro hat in seiner 30-jährigen Arbeit die Sichtbarkeit von Künstlerinnen enorm vorangetrieben. Ich schätze die Vernetzung mit Künstlerinnen aus NRW und die kulturpolitische Öffentlichkeitsarbeit des FKB sehr. Für meinen künstlerischen Lebenslauf wichtige Ausstellungen – Wonderlands – Perspektiven aktueller Photographie, Museum Küppersmühle, Duisburg und Alles Gute! 20 Jahre Künstlerinnenförderung Nordrhein-Westfalen, Museum Schloss Moyland, Bedburg-Hau – Stipendien und Preise (Künstlerinnenpreis Nordrhein-Westfalen im Bereich Fotografie, Förderpreis und Präsenz vor Ort: Stipendium für Bildende Künstlerinnen mit Kindern des Landes Nordrhein-Westfalen, Mikrostipendium 2020) wurden vom FKB initiiert, kuratiert und finanziell gefördert.
Ich wünschte mir, dass sich die Arbeit des FKB eines Tages erübrigt hat. Leider ändert sich das über Jahrhunderte gewachsene Verständnis von männlich dominierter Kunstgeschichte nur langsam. Immer noch werden mehr Künstler als Künstlerinnen von Galerien vertreten, sind Künstlerinnen in Museen unterrepräsentiert und der gender pay gap auf dem Kunstmarkt ist enorm. Um diese und andere Benachteiligungen von Frauen zu beseitigen, bedarf es weiterhin der stetigen kulturpolitischen Lobbyarbeit.
Durch Freundinnen kenne ich das Goldrausch Projekt in Berlin. Es existiert ähnlich lange wie das FKB und hat zur künstlerischen Sichtbarkeit, wirtschaftlichen Gleichberechtigung und zu einem großem, aktiven Netzwerk von Künstlerinnen- hauptsächlich in Berlin- enorm beigetragen.
FKB: Welche Pläne hast du für das Jahr 2022?
Christine: Das nächste wichtige Projekt ist mein Katalogbuch Christine Erhard – Building Images, dass in diesem Frühjahr im DISTANZ Verlag erscheinen wird. Die umfangreiche Monografie präsentiert meine wichtigsten Arbeiten und neue Werke.
Das Interview führte Heidi Matthias